18.45 Uhr Konzerteinführung im Saal Bodensee
19.30 Uhr Großer Saal
Das gesamte Jahresprogramm 2025/2026 können Sie hier digital ansehen.
Arvo Pärt (geboren 1935)
Cantus in memoriam Benjamin Britten für
Streichorchester und Glocke
Jean Sibelius (1865–1957)
Violinkonzert in d-Moll, Opus 47
1. Allegro moderato
2. Adagio di molto
3. Allegro ma non tanto
Jean Sibelius
Zweite Sinfonie in D-Dur, Opus 43
1. Allegretto
2. Tempo andante, ma rubato
3. Vivacissimo
4. Finale
Arvo Pärt – der „wahrhaftige Ton“
Mit Arvo Pärt, 1935 in Paide (Estland) geboren, würdigt das Estonian National Symphony Orchestra einen der wohl populärsten zeitgenössischen Komponisten anlässlich seines 90. Geburtstags. Seine ersten musikalischen Erfahrungen sammelte Arvo Pärt auf einem beschädigten Klavier im Haus seiner Familie. Arvo Pärt hat als Komponist seinen ganz eigenen Weg gefunden. Dieser macht ihn für die Avantgarde suspekt, denn er baut seinen „neuen alten Stil“ auf einem Dreiklang auf und bildet seine melodischen Modelle aus der Reihe der „sieben alten Töne“. Jedoch hat seine Kompositionsweise so gut wie nichts mit der funktionellen Harmonik der Klassik und Romantik zu tun. Vielmehr ist es ein Minimalismus der besonderen Art, den Pärt im Jahr 1977 so erklärt:
„Jede Phrase arbeitet selbständig. Ihr innerer Schmerz und die Aufhebung dieses Schmerzes sind untrennbar verbunden und bilden einen Atem.“ Und weiter schreibt Pärt in diesem Aufsatz:
„Man muss jeden Schritt von einem Punkt zu einem anderen auf dem Notenpapier erwägen. Es ist nötig, dass dieser Schritt erst erfolgt, nachdem du alle möglichen Noten auf ihre Reinheit geprüft hast. Der Ton, der alle Versuche überdauert hat, ist wahrhaftig.“
Vielleicht wird hier spürbar, dass Schweigen und Stille die Grundlage jeglicher Musik bilden, und wir verstehen, dass für den bekennenden orthodoxen Christen Arvo Pärt alle Musik in ihrem innersten Kern religiös ist. Es war im Jahr 1977, als Arvo Pärt nach einer längeren Schaffenspause mit einigen Werken wieder an die Öffentlichkeit trat. Eines davon ist der Cantus in Memoriam Benjamin Britten, gleichsam ein klingendes Epitaph für den wenige Monate zuvor verstorbenen Komponistenkollegen. Arvo Pärt äußert sich dazu sehr persönlich:
„In den zurückliegenden Jahren haben wir sehr viele Verluste für die Musik zu beklagen gehabt. Warum hat das Datum von Benjamin Brittens Tod – 4. Dezember 1976 – gerade eine Saite in mir berührt? Offenbar bin ich in dieser Zeit reif dafür geworden, die Größe eines solchen Verlustes zu erkennen. Unerklärbare Gefühle der Schuld, ja mehr als das, entstanden in mir. Ich hatte Britten gerade für mich entdeckt. Kurz vor seinem Tod bekam ich einen Eindruck von der seltenen Reinheit seiner Musik – einer Reinheit, die dem Eindruck vergleichbar ist, den ich von Balladen Guillaume de Machauts erhalten hatte. Außerdem hatte ich lange schon den Wunsch gehabt, Britten persönlich kennenzulernen. Es kam nicht mehr dazu.“
Man kann nur mutmaßen, wie diese Begegnung zwischen den beiden Größen der Musik verlaufen wäre. Denn äußerlich gesehen haben sie wenig gemeinsam. Britten, der freigeistige Weltbürger und offen homosexuell Lebende, der groß besetzte, komplexe Werke für die Opernbühne und den Konzertsaal schrieb. Andererseits der zurückgezogene, stets suchende Pärt, dessen Werke eine größtmögliche, vielleicht sogar provozierende Schlichtheit anstreben.
Der Cantus in Memoriam Benjamin Britten hat kaum etwas zu tun mit der Musik Benjamin Brittens, vielmehr zeigt er den Stil Arvo Pärts in beeindruckender Reinheit. Er ist eines der Stücke, die den „Tintinnabuli-Stil“ (lateinisch: tintinnabulum = Glöckchen) am sinnfälligsten repräsentieren. Tatsächlich gibt es neben dem Streicherensemble eine Glocke, die regelmäßig den Ton A anschlägt. Des Weiteren fällt eine absteigende a-Moll-Tonleiter auf, dazu der a-Moll-Dreiklang. Das Stück beginnt sehr leise, steigert sich und kehrt wieder zurück in die Stille.
Dass dieser konsequente Purismus, dazu die stets durchschimmernde religiöse Haltung dem kommunistischen Musikideal alles andere als nahekam, ist klar. Arvo Pärt sah sich daher Repressalien ausgesetzt und emigrierte 1980 nach Wien, wo er die österreichische Staatsbürgerschaft erhielt. Bald zog er nach Berlin, um nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder nach Estland zurückzukehren. Sein Heimatland ehrte ihn unter anderem mit dem Arvo-Pärt-Zentrum zur Dokumentation und Erforschung seiner Werke. 2003 richtete die Kulturhauptstadt Graz für Pärt eine Personale aus, und 2005 wohnten Arvo Pärt und seine Frau Nora Pärt der Uraufführung seines Stücks Da pacem Domine durch das Hilliard Ensemble in der Probstei Sankt Gerold im Großen Walsertal bei.
Jean Sibelius – das schwierige Genie
Janne Sibelius war ein Jugendlicher, als sein Onkel, Kapitän auf hoher See, dem Gelbfieber erlag. Dieser Onkel war eine legendäre Figur in der ganzen Sippe. So auch für den jungen Janne, dessen Vater starb, als er nicht einmal vier Jahre alt war. Im Nachlass des Kapitäns fand sich ein Pack Visitenkarten, auf denen sich dieser weltmännisch französisch Jean nannte. Diese Visitenkarten eignete sich Janne an und wurde zu Jean Sibelius, wie wir ihn bis heute kennen.
Jean Sibelius wurde 1865 in Finnland in eine schwedischstämmige Familie hineingeboren und lernte erst spät die finnische Sprache. Das damalige Finnland war noch kein eigenständiger Staat und Spielball zwischen den Interessen vor allem Schwedens und des russischen Zarenreichs. Mit dem finnischen Nationalgedanken, mit dem man Sibelius später so stark identifizierte, kam er durch die Familie Järnefelt in Berührung. Er befreundete sich mit deren künstlerisch tätigen Söhnen und heiratete schließlich deren Schwester Aino – Aino hatte den Ruf, das schönste Mädchen Finnlands zu sein. Der Ehe, die fünfundsechzig Jahre dauerte, entsprangen sechs Töchter. Das Familienleben war nicht immer glücklich, denn Jean führte ein ausschweifendes Leben und leistete sich Alkoholexzesse, sodass trotz guter Einkünfte zeitweilig nicht einmal das Schulgeld für die Töchter aufgebracht werden konnte.
Jean Sibelius strebte als junger Mann die Laufbahn eines Geigers an, ja, er bewarb sich bei den Wiener Philharmonikern, aber erfolglos. Schließlich studierte er in Helsinki, dann in Berlin und in Wien bei Robert Fuchs und Karl Goldmark Komposition. Ab 1892 unterrichtete er am Konservatorium Helsinki. In diese Zeit fallen auch seine ersten Kompositionen, die sofort Beachtung fanden und eine wichtige Rolle in der finnischen Unabhängigkeitsbewegung gegen die russische Vorherrschaft spielten. Es sind die heute noch sehr populären Werke wie die Karelia-Suite, die Chorsinfonie Kullervo sowie die Tondich-
tung Finlandia. Inwieweit diese Werke tatsächlich von nationalpolitischen Ideen gespeist sind, sei dahingestellt. So gut wie sicher aber kann man sagen, dass das gesamte Schaffen von Jean Sibelius, sei dies Programmmusik oder absolute Musik, beeinflusst ist von der Größe und der Weite der finnischen Landschaft. Zudem beschäftigte er sich eingehend mit den uralten Runengesängen Kareliens.
Schon zu Lebzeiten war Jean Sibelius international geachtet, nicht zuletzt in den angelsächsischen Ländern. In Europa begannen seine Werke erst nach dem Zweiten Weltkrieg Fuß zu fassen, vor allem durch die Aufnahmen, die etwa Leonard Bernstein oder Herbert von Karajan auf Schallplatte einspielten. Vielleicht stand die Tatsache im Weg, dass das Naziregime Sibelius’ Werke für
sich vereinnahmte, ohne dass von Seiten des Komponisten eine Nähe zum Hitlerregime bestand. Von seinem Heimatland Finnland bezog Jean Sibelius eine lebenslange Ehrenpension. Und zu seinem neunzigsten Geburtstag erhielt er weit über tausend Glückwunschtelegramme, zudem von Winston Churchill eine Kiste Zigarren. Doch um diese Zeit schrieb Jean Sibelius schon lange keine Note mehr, genau gesagt: Er komponierte die letzten dreißig Jahre seines Lebens nicht mehr. Ob das zu tun hatte mit seinem exzessiven Alkohol- und Tabakkonsum oder vielleicht mit den politischen Geschehnissen der Zeit, die den hypersensiblen Künstler irritierten, weiß man nicht. Er selbst hat sich dazu nie geäußert.
Das Violinkonzert
„Die Geige hatte mich ganz in ihren Bann geschlagen. Zehn Jahre war es mein frommster Wunsch gewesen, ein großer Geigenvirtuose zu werden. Es bedeutete ein schmerzhaftes Erwachen, als ich eines Tages feststellen musste, dass ich für den mühsamen Pfad eines Virtuosen meine Ausbildung zu spät begonnen hatte.“ Jean Sibelius war als junger Mann wohl ein ausgezeichneter Geiger, denn er hatte als Solist Konzerte etwa von Henri Vieuxtemps oder Felix Mendelssohn-Bartholdy aufgeführt. Anders als etwa Dvořák oder Brahms, die sich von Joseph Joachim beraten ließen, konnte sich Jean Sibelius daher auf eigene Kenntnisse der Spieltechnik verlassen. Das Violinkonzert blieb das einzige Virtuosenkonzert im Œuvre von Sibelius, und sein Weg zu dem, was es heute ist – nämlich eines
der wichtigsten Werke seiner Gattung – war ein holpriger.
Jean Sibelius komponierte sein Violinkonzert im Jahr 1903 auf Anregung des deutschen Geigers Willy Burmester, dem er es widmete und der auch die Uraufführung in Berlin spielen sollte. Sibelius entschloss sich jedoch, wohl aus finanziellen Erwägungen heraus, die Uraufführung vorzuverlegen und in Helsinki abzuwickeln. Burmester sah sich außerstande, den neuen Termin wahrzunehmen, und so spielte Viktor Nováček den Solopart. Allerdings dem Vernehmen nach sehr unzulänglich, sodass der Komposition bei Publikum und Presse kein Erfolg beschieden war. Sibelius schrieb eine Neufassung und veranlasste eine weitere Aufführung in Berlin unter dem Dirigat von Richard Strauss und Karel Halíř als Solisten. Burmester wurde also erneut übergangen, aber diesmal hatte das Werk Erfolg. Heute zählt es zu den wichtigsten Solokonzerten für Violine und ist Prüfstein für das Können jedes Solisten, denn es ist höchst anspruchsvoll.
Die zeitliche Nähe zur Zweiten Sinfonie ist dem Violinkonzert von Sibelius anzumerken, wobei letzteres den skandinavisch klaren Ton weniger zelebriert als einen kosmopolitisch-spätromantischen Gestus. Es beginnt mit einem Tremolo der gedämpften Geigen, über dem sich die Solovioline aufschwingt. Drei Themen werden im ersten Satz exponiert, die aber ungewöhnlicherweise mittels einer ausgedehnten Solokadenz der Geige durchgeführt werden. Auch die Reprise verläuft nicht nach dem gängigen Schema, sondern variiert die drei Themen stark. Der zweite Satz ist von weit ausschwingenden Kantilenen der Geige bestimmt, jedoch werden diese in ein dichtes thematisches Geflecht mit dem Orchester eingewoben. Einen mitreißend tänzerischen Elan entfaltet der dritte Satz, der die technischen Anforderungen an den Solisten noch steigert. Eine Stretta in Oktav-Doppelgriffen krönt das eindrucksvolle Werk.
Die Zweite Sinfonie
Im Jahre 1901 war Sibelius bereits sehr prominent und hatte seine erste Sinfonie präsentiert, als ihm ein unbekannter Gönner einen Italienaufenthalt mit Frau und Kindern spendierte – Italien galt ja schon lange als Land der Künste, der Fülle und der Inspiration, man denke an die Italienaufenthalte von Goethe, Mendelssohn oder Tschaikowski. Die Familie machte sich auf die Reise, hielt sich aber ungeplant lange in dem von Jean geschätzten Berlin auf. Die Reisekasse, die immerhin nach heutigem Geld aus achtzehntausend Euro bestand, war leer, sehr zum Entsetzen Ainos. Doch erstaunlicherweise wurde ein neuer Gönner gefunden, die Reise wurde fortgesetzt und ein Haus in Ligurien gemietet. Dieser Gönner legte sein Geld gut an, denn in Italien entstand das wichtigste sinfonische Werk Sibelius’, seine Zweite Symphonie in D-Dur, Opus 43.
Doch auch in der zauberhaften Landschaft Liguriens lief es nicht glatt: Die sechsjährige Tochter Ruth erkrankte an Cholera, und Jean war außer sich vor Sorge – sind doch sowohl sein Vater als auch seine Tochter Kirsti an dieser Krankheit gestorben. Ruth erholte sich, doch der hypersensible Jean konnte sich nicht sammeln. Er ließ Frau und Töchter an der Riviera zurück und reiste nach Rom, wo er endlich die Sinfonie schrieb – in durchwegs nüchternem Zustand, wie er in einem Brief an Aino versicherte. Vollendet hat Sibelius seine D-Dur-Sinfonie dann in Finnland, zurückgezogen in einem Komponierhäuschen. Das erinnert an Gustav Mahler, der ebenfalls in einem eigenen Häuschen in der Natur seine Sinfonien schrieb. Und ein Vergleich mit Mahler hilft uns zum besseren Verständnis der Symphonik von Jean Sibelius. Denn während der Wiener in seinen Klanggebäuden unmissverständlich seine Weltsicht mitteilt, bleibt Sibelius, was den Inhalt seiner Komposition angeht, bedeckt und lässt weder durch verbale Bekenntnisse noch durch seine Klänge zu, etwas hineinzuinterpretieren. „Klares, kaltes Wasser“ habe er komponiert, das ist alles, was er äußerte.
Tatsächlich besticht das große Werk mit immerhin gut dreiviertel Stunden Spieldauer durch seine Klarheit. Und in der Tat ist es ein einziges Motiv, aus dem sich die ganze Sinfonie aufbaut. Wir hören es deutlich gleich zu Beginn: ein vibrierender D-Dur-Dreiklang, aufstrebend und wieder abwärts. Es ist sicher nicht falsch, im Zusammenhang mit diesem Formkonzept an grundlegende Vorgänge in der Natur zu denken – wie das Wachsen einer Pflanze, ja eines Baumes aus einem einzigen Samenkorn. Und da Sibelius durchaus mystischen Ideen zugetan war, ist nicht auszuschließen, dass dieser schlichte Dreiklang so etwas darstellen möchte wie den göttlichen Ursprung, das All-Eine, aus dem alles erwächst und in das alles zurückkehrt. Es gelingt Sibelius somit, ohne eine derart offensichtliche Revolution wie die wenig später sich manifestierende Atonalität, den durch die Sonatenhauptsatzform vorgegebenen, bis dahin herrschenden symphonischen Grundgedanken der Dialektik zu überwinden und so die Form der Symphonie von innen heraus zu erneuern.